Menschen helfen. Gar nicht so einfach.

Die Krankenakte von Monsieur S. lässt nichts Gutes vermuten. Epilepsie seit seinem 14. Lebensjahr, ein Anfall pro Woche gilt für ihn als normal. Auf weniger haben die Ärzte ihn trotz zahlreicher Medikamente nicht einstellen können. Eine ziemliche Drogenkarriere, Kokain, Heroin. Übermäßig viel Alkohol auch. Anfälle, die so stark waren, dass bereits beide Schultern haben zusammenflickt werden müssen. Daneben Schlägereien und ein auffälliges Sozialverhalten: aggressiv, unselbstständig. In der Übergabe höre ich von den Schwestern, dass sein Bettnachbar gestern Abend Angst vor Monsieur S. hatte. Sie bitten die Ärzte darum, ein Einzelzimmer zu organisieren…

Monsieur S. hatte letzte Woche vier epileptische Anfälle, deshalb ist er nun im Krankenhaus, denn selbst für ihn ist das zu viel. Die Ärzte wollen nachvollziehen, warum das auf einmal passieren konnte, und gegebenenfalls seine Therapie anpassen.

Die Patientenbegegnung gestaltet sich anders als erwartet

Mit einem etwas mulmigen Gefühl betrete ich das Patientenzimmer. Die Luft schlägt mir schwer entgegen. Körperhygiene ist hier schon länger zu kurz gekommen. Beim Anblick von Monsieur S. bin ich hingegen angenehm überrascht. Als ich mich vorstelle, schaut er mich aufmerksam an, nickt anerkennend und hat einige Fragen zum Medizinstudium. Dann zeigt er auf seinen Mund und fragt, wann sich jemand um seine Zähne kümmern werde. Seit Freitag sei er ja nun schon im Krankenhaus und über das Wochenende sei nichts passiert. Ich werfe einen Blick in seinen Mund und bin erschrocken: Vier Zähne hat er bei seinem letzten, ungewöhnlich starken Anfall am Freitag verloren. Seine Mundschleimhaut ist aufgebissen, mehrere große Aphten sind zu sehen. Bei der Nahrungsaufnahme sind die sicherlich ziemlich schmerzhaft. Ich versichere ihm, mich um eine Untersuchung bei den Zahnärzten im Erdgeschoss zu kümmern. Dann klebe ich ihm Elektroden auf, jeder Patient bekommt zu seiner Ankunft in der Neurologie ein EKG. Als Monsieur S. bemerkt, dass ich dabei etwas irritiert auf die großen langen Narben auf der Außenseite seines linken Oberarms schaue, erklärt er mir trocken, dass er vor einigen Jahren von Hooligans attackiert wurde. Von welchem Fußballverein er Fan war und wen seine Aggressoren unterstützt haben, habe ich sofort vergessen. Stattdessen denke ich daran, dass ich gestern gelesen habe, dass 15 bis 25% aller Krankenhausaufenthalte in Frankreich direkt oder indirekt mit übermäßigem Alkoholkonsum in Verbindung gebracht werden können. Ich gehe im Kopf durch, was ich noch erinnere zu diesem Thema… Stimmt ja, viele Alkoholiker haben einen erheblichen Vitaminmangel. Und richtig, auch Monsieur S. wurde direkt an den Tropf gehängt. Die Gunst der Stunde – sein Krankenhausaufenthalt – wird genutzt, um langfristige Mangelerscheinungen zu vermeiden.

Monsieur S. ist recht gesprächig. Ein sehr wichtiges Anliegen hat er noch: Eigentlich hätte er heute um ein Uhr einen auswärtigen Termin beim Zahnarzt gehabt. Ob ich den für ihn absagen könne? Detailliert erklärt er mir, dass es ja kein Benehmen sei, einfach nicht zu kommen. Nicht, dass seine Ärztin ihm nächstes Mal keinen Termin mehr gebe! Ich bin gerührt, sein Bemühen kommt aus tiefstem Herzen. Gleichzeitig lässt seine Vorgeschichte vermuten, dass es ihm längst nicht immer gelingt, so gewissenhaft und rücksichtsvoll im Umgang mit anderen zu sein. Oder dass dies womöglich nur eine Seite seiner Persönlichkeit ist.

Prozessmanagement stelle ich mir anders vor

Am nächsten Tag spreche ich die Sekretärin darauf an, ob Monsieur S. bereits einen Termin beim Zahnarzt bekommen hat. Aber eine Antwort auf das Fax, das ich gestern Vormittag losgeschickt habe, ist bisher nicht gekommen. Sie legt mir nahe, ihre Kolleginnen persönlich aufzusuchen, da erreiche man am meisten. Ich bin verblüfft darüber – am Prozess vorbei, nur weil ich gerade etwas Zeit übrig habe? So soll es doch eigentlich gerade nicht laufen. Aber gut. Das entsprechende Sekretariat kenne ich aus meinem Praktikum in der HNO. Als ich eintrete, ist nur eine der drei Sekretärinnen am Platz. Und die reagiert auf meine vorsichtige Frage vollkommen gestresst. Sie wisse überhaupt nicht wo ihr der Kopf stehe, beide Kolleginnen wären gegangen, sie sei vollkommen überlastet und wisse nicht, wann sie heute nach Hause gehen könne. So ist das also. Vor ein paar Wochen habe ich schon mitbekommen, dass das Pflege- und Verwaltungsteam in diesem Bereich äußerst unzufrieden mit der Klinikleitung war. Nun haben zwei Kolleginnen (oder gar noch mehr?) ihre Drohung in die Tat umgesetzt und das Krankenhaus verlassen. Die übrig gebliebene Sekretärin tut mir Leid. Wenn ich es richtig durchschaut habe, ist sie eine Art Assistentin der beiden Sekretärinnen; kein Wunder, dass sie nun heillos überfordert ist. Ich nicke verständnisvoll, obwohl es mich frustriert, dass ich Monsieur S. mitteilen muss, dass es wohl besser ist, wenn er sich nach seiner Entlassung einen neuen Termin bei seiner niedergelassenen Zahnärztin geben lässt.

Doch Monsieur S. ist weniger enttäuscht, als ich erwartet hätte. Er ist gut gelaunt, denn gerade hat er erfahren, dass er schon heute entlassen wird. Und erkundigt sich bei mir, ob ich seinen Termin gestern erfolgreich abgesagt habe. Ich freue mich, dass ich ihm zumindest darauf eine positive Antwort geben kann, schenke ihm ein Lächeln und verabschiede mich von ihm: Alles Gute. (Und denke: Ich kann mir nur vage vorstellen, wie schwer Sie es haben. Das Schicksal ist ein mieser Verräter.)

2 Gedanken zu „Menschen helfen. Gar nicht so einfach.

    1. Danke Audi! Klar, das ist gut möglich. Aber Drogenkonsum und Schlägereien lassen mich dennoch vermuten, dass der Patient es im Leben nicht so einfach hat… von seiner Krankheit mal ganz abgesehen. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass die für seinen sonstigen Lebenswandel nicht unwichtig war.

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